ICH WILL, ICH WILL, ICH WILL
Ein Essay über das Wünschen, Wählen und Wollen.

Gestern in der S-Bahn schrie ein Baby, so wie jeden Tag in jeder S-Bahn mindestens ein Baby schreit. Es rappelte in seinem Sitz-Kinderwagen hin und her und streckte sich nach irgendetwas, das seine Mutter (die fiese Kuh) ihm gerade entwendet hatte. Das Einfordern wurde immer lauter und vehementer, wie das Nölen eines Staubsaugers, der glaubt, er hätte die Macht, den Badvorleger am Stück zu verschlingen. Doch die Mutter blieb stur und gab ihrem Kind das gewünschte Etwas nicht zurück. Sollte es doch weiter schreien – und sollten sich die Geduldsfäden der restlichen Fahrgäste ruhig weiter aufdröseln. Bei mir wurden die Nerven von dem Lärm allerdings nicht getötet, sondern aufgeweckt.

Dieses Geschrei bedeutet ja eigentlich nichts anderes als: „Ich will das haben!“ Irgendwie erstaunlich, wie man sich so im Laufe des Lebens damit abfindet, dass man dies und jenes eben nicht haben kann. Ganz am Anfang schreit man noch, später nervt einen dieses Schreien so, dass man nicht mal mehr merkt, wie man sein eigenes Schreien permanent unterdrückt. Man kann nicht alles haben. Ja, aber ändert das etwas daran, dass man – wenn man mal ehrlich ist – am liebsten doch alles hätte?

Das Sich-Begnügen kommt mir wie das größte Kunststück vor, das ein Mensch im Laufe seines Lebens zu bewerkstelligen hat – eine ziemliche Sisyphus-Arbeit. Denn hinterrücks, wie eine nuckelklauende Mutter, hat die Natur uns in die Gene gepinselt, dass unsere Wünsche und Ansprüche, genau wie wir, immer komplexer werden und beginnen, sich gegenseitig zu verunmöglichen. Also versuchen wir, uns im Laufe des Lebens von dem ein oder anderen Wunsch zu verabschieden. Man schmiedet seinen eigenen Kompromiss mit sich selbst und seinen Ansprüchen. Jeder positioniert sich in der Prioritätenmatrix an einem höchst individuellen Fleck – der vielleicht so einzigartig ist wie ein Fingerabdruck. Man nennt das dann künstlerisch „Lebensentwurf“.

Ich will durch die weite Welt reisen, mich immer wieder neu entdecken ... und mich zu Hause fühlen, ein eigenes kleines Universum bauen, mit den Kindern im Garten spielen. Ich muss mich entscheiden. Ich will Aufmerksamkeit ... und ich will meine Ruhe haben. Ich will Kontrolle! Ich will nachts um drei ein Spanferkel grillen, wenn mir danach ist ... aber ich möchte keinem Ferkel was zuleide tun. Ich will mich verantwortungsvoll gegenüber dem Planeten und meinem Gegenüber verhalten ... und das Leben bis zum letzten Zug ausschlürfen, nichts verpassen. Ich werde vieles verpassen, es wird an mir vorüberfliegen! Deshalb will ich es festhalten, will alles besitzen, was man besitzen kann ... und doch frei und leicht wie ein Vogel sein. Ohne Ballast. Ich will jeden Tag auf‘s Neue entscheiden, was ich eigentlich will. Ich will...

Die Philosophie, dass prinzipiell alles möglich werden kann, ist heute allgegenwärtig. Diesem Satz fehlt jedoch der erklärende Untertitel: „Ja, aber nicht für jeden und erst recht nicht alles auf einmal!“ Trotzdem hechelt die moderne Mittelschicht einem medial dargebotenen Wolkenkuckucksheim vom perfekten Leben hinterher. Die Hoffnung darauf, dass persönliche Utopien wahr werden, ist kein Traum mehr, den man im stillen Kämmerlein träumt. Es ist stattdessen in weiten Kreisen ein höchstöffentlicher Anspruch auf absolute Selbstverwirklichung entstanden. Und in Anbetracht der vielfältigen Chancen, die man heutzutage hat, kommt es fast einem Scheitern gleich, sich nicht zu verwirklichen. Die Freiheiten wachsen, und damit auch der Druck sie zu nutzen. Freiheit angesichts eines Überangebots (von was auch immer), ist allerdings eine Qual (nämlich die der Wahl).

Das Sich-Entscheiden-Müssen zwischen Dingen ist ein Prozess, dem das Gefühl von Verlust und Verzicht anhaftet. Trotzdem gilt es als Privileg wählen zu „dürfen“. Und privilegiert wie wir sind, „dürfen“ wir uns ständig zwischen verschiedenen Angeboten, Vorschlägen und Alternativen entscheiden.
Die Marktwirtschaft zum Beispiel, die sich unseres Lebens freundlicherweise von A-Z angenommen hat, tritt täglich als freundlicher Bittsteller verkleidet an unsere Tür. Und dann dürfen wir wieder wählen: zwischen Ausbildung A oder B, bzw. Staubsauger C oder D.
Wir „dürfen“ das nicht nur – wir müssen. Entscheidungen müssen getroffen werden, denn dazu sind sie ja da. Und ich bin schließlich derjenige, der hier die Entscheidungen trifft – oder wie oder was?
Was wir dürfen, aber kaum noch können vor lauter Wahlfreiheit und lauten Entscheidungsorgien: In uns hineinhören. Uns selbst zuhören, dann nachdenken und irgendwann vielleicht einmal: wissen. Wissen was gut ist. Für einen selbst und sowieso.
Die hunderttausend Entscheidungen anderer, die einem täglich so vor die Seele geklatscht werden, das sind hunderttausend Meinungen. Wir können uns uns eine davon aussuchen – aber das wird nicht unsere eigene sein.

Nehmen wir mal an, es gäbe genau vier möglichen Wege für unser zukünftiges Leben. Und irgendein höheres Wesen – sagen wir ein Katze – stellt uns vor die Wahl: A, B, C oder D? Nun, ich prophezeie folgenden Ablauf für dieses Szenario: wir werden eine ganze Weile die Vor- und Nachteile von A, B, C, und D abwägen, und dann wird ein undefinierbarer Wunsch in uns aufploppen: Der Wunsch nach einem „E“. Wir haben keinen Schimmer, wie dieses „E“ aussehen soll, aber wir wünschen uns, es wäre da. Doch dann tippt die Katze mit der Pfote auf die Uhr und wir entscheiden uns für mal wieder für: na, eben für A, B, C oder D.
Man bestellt im Restaurant ja auch nichts, das nicht auf der Karte steht. Wer rennt denn durch die Wand, wenn diese Wand eine Tür hat? Wir versuchen zufrieden zu sein mit den Buchstaben, den Türen und den Mahlzeiten, die das Leben uns vorsetzt. Das ist das einzig Vernünftige. Sich zu begnügen.

Vor meinem inneren Auge sehe ich nun ein Kind, das mit nichts als einem Stock in den kargen Innenhof zum Spielen geht und als diplomierter Löwendompteur zurückkommt. Was hat es denn damit auf sich? Es begnügt sich mit einem Stock und bekommt dafür die phantastischste, bunteste Welt eines Zirkuszeltes geboten. Das hat eigentlich nichts mit „Sich Begnügen“ zu tun… Es fällt offenbar leichter, mit etwas zufrieden zu sein, das aus einem selbst heraus entstanden ist. Es verleiht einem das Gefühl von Sicherheit und Selbstständigkeit. Schaffenskraft und Phantasie machen unabhängig.

Nur in unserer schönen 9-to-5-Welt hat das Wort „Phantasie“ mitunter einen negativen Beigeschmack (wenn man es nicht gerade mit „Innovation“ verwechselt). Den Beigeschmack von Träumerei, von Ergebnislosigkeit. Den von Zerstreuung, dort wo eigentlich Fokussierung von Nöten wäre. Ich denke, nur Phantasie kann zu einem echten Fokus hinführen – zu einem, der auch etwas mit uns selbst zu tun hat. Die Phantasie ist schließlich das Tor zu unserer Kindheit. Zu unseren Wünschen und Hoffnungen und damit zu uns selbst. Nun muss man sich fragen, was das für eine Welt ist, in der es beizeiten unerwünscht sein kann, zu sich selbst zurückzufinden.

Augen zu.
Ich gehe mit meinem Stock in den Innenhof unseres Hauses, um nach meinem Löwen zu schauen. Mich empfängt stattdessen eine Fee, die meinen Stock in einen Zauberstab verwandelt, der genau EINEN Zauber ausführen kann. Was mache ich nun damit? Ich werde lange, sehr lange hin- und herentscheiden. Und dann werde ich etwas tun, über das ich sehr lange hin- und herentschieden habe. Während ich so hin- und herentschieden habe, vielleicht jahrelang, wird der Löwe in meiner Phantasie verdurstet sein. Ich werde dann diesen einen Wunsch aussprechen, diesen EINEN Zauber, bei dem es für immer bleiben wird und mit dem ich dann mein Leben leben muss: ... Ich wünsche mir meinen Stock und meinen Löwen zurück. Meine Vorstellungskraft, mein blindes Vertrauen, meinen inneren Kompass.

Ich denke zurück an das Baby in der S-Bahn. Das schreit, weil ihm etwas weggenommen wurde. Es geht um „Haben oder Nicht-Haben“. Die Antwort darauf fällt nicht schwer: „Haben!“. Wenn es doch immer so einfach wäre, zu wissen was man will! Wenn es nur ein Glühwürmchen am Horizont gäbe, statt die hell erleuchtete Skyline einer Großstadt. Dann würde sogar ich laut danach schreien.

Doch manchmal (!) hat das Leben tatsächlich ein Einsehen und schenkt uns einen echten Glühwürmchen-Moment. Einen Augenblick, in dem der innere Kompass völlig verrückt spielt und wir uns trotzdem, wie von fremder Hand geführt, in die richtige Richtung bewegen. Es bleibt dann nur noch ein Wunsch, ein Wille und eine Wahl: In dem Moment, in dem ein Glühwürmchen ein anderes trifft und die Welt um sie herum auf wundersame Weise dunkel wird.

Der Moment, in dem alle Lichter ausgehen und die beiden Würmchen zum ersten Mal merken ...dass sie leuchten.